Polbud: Neues EuGH-Urteil mit negativen Auswirkungen für Beschäftigte

Gastbeitrag von Rainald Thannisch, Referatsleiter in der Abteilung Grundsatzangelegenheiten und Gesellschaftspolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (der Beitrag ist zuerst erschienen im Blog Arbeit & Wirtschaft)

Die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall Polbud könnte einen ruinösen Wettbewerb im Gesellschafts- und Unternehmenssteuerrecht auslösen und die Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen gefährden. Gefordert sind nun vor allem die EU-Kommission als auch die Mitgliedstaaten, um schweren Schaden für die Beschäftigten zu verhindern.

Kennen Sie den „Delaware Effekt“?

Delaware ist der zweitkleinste Bundesstaat im Nordosten der USA mit knapp einer Million EinwohnerInnen. Produziert werden dort unter anderem Geflügel, Sojabohnen und Molkereiprodukte. International bekannt ist der US-Bundestaat jedoch nicht für seine landwirtschaftlichen Produkte, sondern für seine vielen Briefkastengesellschaften, die in ihrer Summe offenbar die Anzahl der BürgerInnen übersteigt.

Laut einer Recherche der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist allein die größte Stadt des Landes, Wilmington, Heimat von einigen hunderttausend Briefkastenfirmen. Insgesamt meldet „die Regierung des Bundesstaates, dass 65 Prozent der im Börsenindex Fortune 500 notierten Unternehmen ihren rechtlichen Sitz in Delaware haben.“ In der Regel handelt es sich dabei aber nicht um ihre Firmenzentrale.

Der Grund dafür liegt im sogenannten Delaware-Effekt, mittlerweile ein geflügeltes Wort für den Wettlauf um das liberalste Gesellschafts- und wohl auch Steuerrecht innerhalb der USA. Diesen Wettkampf hat Delaware ganz offenbar gewonnen, dicht gefolgt von anderen Bundesstaaten. Dieses Verhalten geht stark zulasten der öffentlichen Steuereinnahmen in den Bundesstaaten, die steuerlich nicht so attraktiv waren.

Die Europäische Niederlassungsfreiheit als Vehikel zur Vermeidung der  Unternehmensmitbestimmung

Was aber hat das mit Europa zu tun? Die Antwort lautet: „Leider sehr viel!“ Denn auch innerhalb der EU könnte ein Delaware-Effekt eintreten, wenn nicht schnell politisch gehandelt wird.
Denn bereits heute konkurrieren deutsche Unternehmensrechtsformen wie zum Beispiel die Aktiengesellschaft oder die GmbH mit nationalen Rechtsformen anderer EU-Mitgliedstaaten wie der britischen Limited, der niederländischen B.V. oder der Malta Ltd., abgesichert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit.

Diese Konkurrenz führt dazu, dass sich Unternehmen bereits heute durch die Wahl der Rechtsform gewissermaßen die Rosinen aus dem europäischen Gesellschaftsrechts-Kuchen picken können. Ein gutes Beispiel für dieses „Cherry picking“ ist – bezogen auf Deutschland und Österreich – die Vermeidung der Unternehmensmitbestimmung (Vertretung der Beschäftigten im Aufsichtsrat).

Dazu eine kurze Erläuterung: In Deutschland unterliegen Kapitalgesellschaften der Mitbestimmung im Aufsichtsrat, wenn sie mehr als 500 MitarbeiterInnen beschäftigen. In Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten stellen demokratisch gewählte ArbeitnehmervertreterInnen sogar die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. In Österreich gibt es dafür bei Aktiengesellschaften gar keine Mindestzahl an Beschäftigten. Hier können die ArbeitnehmerInnen immer ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder stellen, sofern ein (Zentral-)Betriebsrat besteht.

Junge und wachsende Unternehmen entziehen sich der Mitbestimmung

Die Unternehmensmitbestimmung verfügt in Deutschland und Österreich insgesamt über eine hohe Akzeptanz in Gesellschaft und Politik. Leider zeigt sich jedoch, dass sich junge und wachsende Unternehmen zunehmend der Mitbestimmung entziehen. Man darf vermuten, dass ihre EigentümerInnen beziehungsweise das Management aus Machtgründen heraus nicht gewillt sind, ArbeitnehmervertreterInnen in die Unternehmensführung einzubeziehen. Trotz der ökonomischen Vorteile, die mit einer Mitbestimmung verbunden sind.

Diese antizipative Mitbestimmungsvermeidung findet in Deutschland statt, bevor die Unternehmen die Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 erreichen. Sehr beliebt ist dabei die Nutzung einer Rechtsform, die in einem anderen EU-Staat ins Handelsregister eingetragen ist. Beispielsweise ist immer wieder die Nutzung einer Mischform aus deutschen und ausländischen Rechtsformen wie die plc & Co KG zu finden.

Insgesamt entziehen sich auf diesem Wege nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung derzeit fast 100 Unternehmen in mitbestimmungsrelevanter Größe den deutschen Mitbestimmungsgesetzen. Betroffen davon sind insgesamt mehr als 300.000 Beschäftigte mit weiterhin steigender Tendenz!

Anders sieht es hingegen bei seit längerem existierenden Unternehmen aus, die in Deutschland im Handelsregister registriert sind und bereits der gesetzlichen Mitbestimmung unterliegen. Hier war es bislang unklar, ob eine deutsche GmbH ohne weiteres ihre Umwandlung beispielsweise in eine britische Limited verlangen konnte. Vermutlich haben große Rechtsunsicherheiten diese Unternehmen bislang davon abgehalten, diesen Weg zu wählen.

Öffnet die aktuelle EuGH-Entscheidung im Fall Polbud dem ruinösen Standortwettbewerb Tür und Tor?

Diese Rechtsunsicherheiten sind nun jedoch durch eine aktuelle Entscheidung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit deutlich reduziert worden. Den Rahmen dafür bietet die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache C-106/16 (Polbud) vom 25. Oktober 2017.

Mit dieser Entscheidung konkretisiert der EuGH seine Rechtsprechung: Demzufolge ist es unter Verweis auf die Niederlassungsfreiheit möglich, dass ein Unternehmen innerhalb der EU seine Rechtsform umwandelt.

In überraschender Deutlichkeit widerspricht der EuGH zudem der in dem Verfahren von der (alten) österreichischen Regierung vorgetragenen Auffassung, dass die Niederlassungsfreiheit nur geltend gemacht werden könne, wenn die Sitzverlegung durch die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Zuzugsstaat begründet werde.

Um bei unserem Beispiel zu bleiben: In letzter Konsequenz bedeutet der Fall Polbud, dass eine Eintragung ins maltesische Handelsregister auch dann möglich ist, wenn das vormals deutsche Unternehmen in Malta keinerlei Wertschöpfung tätigt. Wichtig wäre nur, dass Malta einen solchen Rechtsformwechsel zulässt.

Die vom ÖGB formulierte beunruhigende Erkenntnis lautet: „Gesellschaften müssen lediglich ihre Postanschrift in einem anderen EU-Mitgliedstaat anmelden, um den Unternehmenssitz zu verlagern.“ Die praktische Relevanz dieser Entscheidung sollte nicht unterschätzt werden, droht doch der Weg für die Gründung von Briefkastengesellschaften weiter geebnet zu werden.

Außerdem macht der EuGH in seiner Entscheidung unmissverständlich deutlich, „dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für sich allein keinen Missbrauch darstellt, wenn eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen (…)“. Somit ist auch klargestellt, dass ein beispielsweise durch niedrige Mitbestimmungsstandards im Zielland motivierter Rechtsformwechsel zwar möglicherweise im politischen oder gewerkschaftlichen Diskurs als missbräuchlich angesehen wird; aus europarechtlicher Sicht ist diese Ansicht nun jedoch nicht länger haltbar.

Negative Effekte auf die Mitbestimmung der Beschäftigten in Deutschland

Ein ruinöser Wettbewerb im Bereich des Gesellschaftsrechtes und der Unternehmenssteuern – der Delaware-Effekt – ist in der Folge absolut vorstellbar. Und er könnte bald beginnen. Das EU-Mitgliedsland Estland, ebenfalls ein Staat ohne Unternehmensmitbestimmung, wirbt schon jetzt damit, wie schnell und digital bei ihm Unternehmen gegründet werden können.

Insbesondere die Auswirkungen auf die deutsche Mitbestimmung können durch das EuGH-Urteil zu Polbud durchaus erheblich sein: So wäre die deutsche Unternehmensmitbestimmung beispielsweise in dem Augenblick verloren, in dem die vormalige GmbH die Rechtsform der Malta Ltd. annimmt. Denn Malta sieht für dort registrierte Unternehmen keine Unternehmensmitbestimmung vor.

Neben der oben erläuterten antizipativen Vermeidung von Mitbestimmung könnte somit die Flucht aus einer tatsächlich bestehenden Mitbestimmung treten. Auch für Minderheitsaktionäre und Gläubiger drohen Nachteile. Zudem könnten für die öffentliche Hand dadurch Steuereinnahmen verloren gehen.

Das alles sind keine guten Aussichten für das soziale Europa und für die Akzeptanz Europas bei den Menschen und insbesondere auch bei den ArbeitnehmerInnen.

Soweit muss es aber nicht kommen!

Denn der EuGH bekräftigt in seiner Entscheidung zu Polbud, dass ein Mitgliedstaat die Niederlassungsfreit beschränken darf, wenn dies aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei. Ausdrücklich erwähnt wird in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, die Interessen der Gläubiger, Minderheitsgesellschafter und ArbeitnehmerInnen der wegziehenden Gesellschaft zu schützen.

Für die Europäische Politik bedeutet dies konkret, dass jetzt zunächst einmal die EU-Kommission gefordert ist. Sie muss die schon seit Jahren immer wieder angekündigte Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung endlich vorlegen. Dazu gilt es, dass derzeit innerhalb der EU-Kommission diskutierte aber noch nicht veröffentlichte Gesetzespaket zum Gesellschaftsrecht zu ergänzen.

Der Europäische Gewerkschaftsbund hat die EU-Kommission daher bereits im Dezember 2017 dazu aufgefordert, sicherzustellen, dass ein grenzüberschreitender Rechtsformwechsel nur dann stattfinden kann, wenn Satzungs- und Verwaltungssitz gemeinsam verlegt und die Mitbestimmungsrechte geschützt werden.

Politisches Handeln ist JETZT gefragt!

Die österreichische EU-Parlamentarierin Evelyn Regner unterstreicht diese Notwendigkeit, in dem sie erklärt: „Wir brauchen dringend ein Unternehmensrecht in Europa, das solche Sitzverteilungen, bei denen nur der Briefkasten das Land verlässt, unterbindet.“ Es sei bereits „fünf vor zwölf“. Das Gesetzespaket zum Gesellschaftsrecht müsse nachgebessert und mit einer Richtlinie für Mitbestimmung in Unternehmen und dem Verbot für Briefkastenfirmen ergänzt werden.

Auch nach Ansicht von Peter Stelmaszczyk von der deutschen Bundesnotarkammer sollte „eine EU-Sitzverlegungsrichtlinie nach dem Vorbild der SE-VO (…) zwingend die gleichzeitige Verlegung von Satzungs- und Verwaltungssitz, zumindest aber das Erfordernis eines genuine links zum Zuzugsstaat vorschreiben.“. Die Polbud-Entscheidung stehe einem diesbezüglichen Engagement der EU-Kommission nicht entgegen (EuZW 2017, S. 890 ff.).

In zusammenfassender Betrachtung zeigt sich, dass der europäische Gesetzgeber sowohl rechtlich als auch praktisch dazu in der Lage ist, Regeln zum Schutz der Mitbestimmung und anderer Standards im Gesellschaftsrecht aufzustellen.

Auf nationaler Ebene könnte die Bundesregierung zudem dafür sorgen, dass Auslandsgesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland der deutschen Unternehmensmitbestimmung zwingend unterworfen werden. Notwendig ist allerdings, dass die Politik schnell handelt und die Weichen in die richtige Richtung zügig stellt. Untätigkeit können wir uns nicht leisten.

Nur so kann es gelingen, den ruinösen Wettbewerb im Gesellschaftsrecht in der EU verhindern und dafür zu sorgen, dass der Delaware-Effekt auf den gleichnamigen US-Bundesstaat beschränkt und damit auf der anderen Seite des großen Teiches bleibt.